Turmbau zu Babel im 21. Jahrhundert

Die Idee klingt, als wäre sie geradewegs einem Science-Fiction-Roman entsprungen und tatsächlich war es Arthur C. Clarke, der sie über dieses Medium erstmals einem größeren Publikum bekannt machte: Ein Aufzug, der Fracht und Personen von der Erdoberfläche geradewegs in den Weltraum transportiert, genauer gesagt bis auf eine Höhe von 100.000 Kilometern.

Ein Beitrag von Gero Schmidt

Entwurf eines Weltraumlifts

Natürlich ist die erste Reaktion der meisten Zeitgenossen, die von dieser Idee hören, ungläubiges Kopfschütteln oder Belustigung, schließlich sind unsere höchsten Wolkenkratzer gerade mal einen halben Kilometer hoch, wie wollte man also eine Struktur errichten, die diese Höhe um das 200.000-fache übertrifft?

Um das zu beantworten machen wir ein Gedankenexperiment: Was würde geschehen, wenn man, rein hypothetisch, am Äquator einen Turm bauen würde, immer höher und höher, zehntausende Kilometer hoch? Wir wollen hier alle praktischen Schwierigkeiten wie Probleme mit der Statik eines solchen Bauwerks, die lebensfeindlichen Bedingungen jenseits der Erdatmosphäre usw. außer acht lassen.

Die verdutzten Bauarbeiter würden feststellen, dass sie sich immer leichter fühlten, je höher sie den Turm bauten, bis sie schließlich, auf einer Höhe von ca. 36.000 Kilometern über dem Erdboden, gänzlich schwerelos wären.

Warum ist das so? Sicher stehen die Bauarbeiter in dieser Höhe immer noch unter dem Einfluss des Schwerefeldes der Erde, auch wenn dieses hier schon merklich schwächer geworden ist, wie können sie also trotzdem schwerelos sein? Im Grunde geschieht hier nichts anderes als bei einem Flug mit dem Space Shuttle. Auch das Shuttle verlässt ja nicht den Einflussbereich des Schwerefeldes, es umkreist die Erde sogar in einem weitaus geringeren Abstand zur Oberfläche (ca. 400 Kilometer). Stattdessen wird die Schwerkraft durch eine andere Kraft, die Zentrifugal- oder Fliehkraft kompensiert. Diese wirkt auf jeden Körper, der eine Kreisbahn beschreibt und ist abhängig von dessen Masse, der Entfernung zum Mittelpunkt der Kreisbahn (d.h. dem Bahnradius), und der Geschwindigkeit mit der der Körper umläuft. Wenn nun also das Shuttle die Erde auf einer Bahn mit einem bestimmten Radius umkreisen soll, sprich in einer bestimmten Höhe über der Erdoberfläche, so muss es dazu eine bestimmte Geschwindigkeit erreichen, um eine Zentrifugalkraft zu erfahren, die die in dieser Höhe angreifende Schwerkraft kompensiert und so verhindert, dass das Shuttle zur Erde zurückstürzt; man spricht in diesem Zusammenhang von der orbitalen Geschwindigkeit.

Diese ist logischerweise für jeden Bahnradius verschieden: Je größer der Bahnradius eines Orbits ist, desto geringer ist die zugehörige Orbitalgeschwindigkeit. In 36.000 Kilometern Höhe nun entspricht die orbitale Geschwindigkeit genau der Rotationsgeschwindigkeit der Erde (genauer: die jeweiligen Winkelgeschwindigkeiten stimmen überein, die Bahngeschwindigkeiten sind damit natürlich verschieden) und deshalb befinden sich unsere Arbeiter an diesem Punkt in einem Erdorbit, obwohl sie immer über derselben Stelle am Erdäquator stehen, sich ihre Position relativ zur Erde also nicht verändert. Diese Umlaufbahn hat einen eigenen Namen: Geostationärer Erdorbit (GEO). Er wird heutzutage vor allem für Kommunikationssatelliten genutzt, die ja meist ein bestimmtes Gebiet abdecken und dabei 24 Stunden am Tag erreichbar sein sollen.

Würde unser hypothetischer Turm nun noch weiter in die Höhe wachsen, so würden die Bauarbeiter bald die Wirkung einer Kraft spüren, die sie von der Erde wegzieht; es ist wieder die Zentrifugalkraft, die nun, jenseits des GEO, die Oberhand über die Schwerkraft gewonnen hat und immer stärker wird, je höher unser Turm wird.

Schließlich wird es so sein, dass sich beide „Turmhälften“, die eine diesseits, die andere jenseits des geostationären Orbits, sich gegenseitig die Waage halten: Sie werden von der Gravitation auf der einen und der Zentrifugalkraft auf der andere Seite in entgegengesetzte Richtungen gezogen. Soweit das Gedankenexperiment. Es dürfte klar geworden sein, dass für den Bau von Strukturen, die sich über Tausende von Kilometern hinaus in den Weltraum erstrecken ganz andere Rahmenbedingungen gelten, als etwa für Wolkenkratzer.

Spacelift zu einer Raumstation.

Bis vor kurzem war es üblich, den Weltraumaufzug tatsächlich als eine Art Turm zu begreifen, zumindest was die geometrischen Abmessungen anbelangt: Man stellte sich ein massives Kabel mit mehreren Metern Durchmesser und mehreren Milliarden Tonnen Masse vor, das aus den Rohstoffen eines Asteroiden hergestellt werden sollte, den man zuvor in eine geostationäre Umlaufbahn gebracht hätte. So ein Plan wäre natürlich mit heutiger Technologie nicht zu realisieren gewesen: Nicht nur, dass wir noch weit davon entfernt sind, die Bahn eines Asteroiden signifikant verändern zu können, auch die Vorstellung, dann im Weltraum aus dessen Rohmaterialien ein zig Tausende Kilometer langes Kabel zu fabrizieren, das dann langsam zur Erde hinabgelassen würde, scheint gewagt.

Deshalb siedelte man die Verwirklichung eines Weltraumaufzugs auch bisher stets in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts an. Die prinzipielle Möglichkeit, einen solchen Aufzug zu bauen, zeichnete sich sowieso erst Anfang der Neunziger Jahre mit der Entdeckung der so genannten Carbon Nanotubes (CNTs) ab. Dieses neue Material hat erst die benötigte Reißfestigkeit: Stahl oder sogar Kevlar könnten den Belastungen, die einem für den Weltraumaufzug geeigneten Werkstoff abverlangt würden, nicht standhalten. Sie haben eine zu geringe Reißfestigkeit im Verhältnis zu ihrer eigenen Masse, d.h. sie könnten das „Gewicht“ des Kabels auf beiden Seiten des GEO nicht halten und es würde sie buchstäblich zerreißen. Carbon Nanotubes dagegen haben die benötigten Eigenschaften: Theoretischen Berechnungen zufolge ist dieses Material 100 mal belastbarer als Stahl und dabei um einiges leichter.

Bradley Edwards, ein ehemals beim Los Alamos National Laboratory beschäftigter Wissenschaftler, begann 1999 im Rahmen einer Studie des NASA Institute for Advanced Concepts (NIAC) zu untersuchen, ob es nicht einen einfacheren Weg gebe, einen Weltraumaufzug zu bauen, so dass dieser nicht erst in 50 oder 100 Jahren sondern schon in relativ naher Zukunft realisierbar wäre. Edwards fand einen solchen Weg, den er in der Folgezeit mit der fortdauernden Unterstützung des NIAC weiter ausarbeitete.

Sein Plan sieht folgendermaßen aus: Sämtliche Komponenten des Aufzugs werden von der Erde ins All gebracht und müssen nicht erst dort hergestellt werden. Den Anfang macht ein Raumfahrzeug mit zwei großen Spulen, auf die ein 100.000 Kilometer langes Ribbon, also eine Art Band, aufgerollt ist. Dieses Band besteht aus einem erst noch zu entwickelnden CNT-Verbundwerkstoff und ist nur Mikrometer dick. Die Komponenten des Raumfahrzeugs werden mit vier Trägerraketen (zum Beispiel vom Typ Delta IV oder Ariane V) in einen niedrigen Erdorbit gebracht und dort zusammengebaut, bevor man das gesamte Vehikel in einen geostationären Orbit weitertransportiert. Von dort aus wird dann begonnen, das Band abzurollen, und während es immer weiter hinabgelassen wird, bewegt sich das Raumahrzeug selbst in immer größere Höhen (mittels eine „magnetoplasmadynamischen Antriebs“; damit ist wohl ein Triebwerk in der Art von VASIMR gemeint), so dass der Schwerpunkt des ganzen Gebildes stets auf Höhe des GEO bleibt. Wenn schließlich das CNT-Band bis zur Erde abgerollt worden ist, wird es dort auf einer im äquatorialen Pazifik schwimmenden Plattform verankert. Nun werden über einen Zeitraum von knapp zweieinhalb Jahren mehr als zweihundert so genannte Climbers über das Band nach oben geschickt, welche das Band wie eine Art Schiene oder Straße nutzen, ihre Energie (wie übrigens auch das Raumfahrzeug, das den Anfang gemacht hat) über Laserlicht von der Erde erhalten, und das Band auf ihrem Weg nach oben immer weiter verstärken. Sie bilden dann, zusammen mit dem ersten Raumfahrzeug, das Gegengewicht am erdfernen Ende des Bandes. Am Ende diese Prozesses ist das Band stark genug, um daran jeden Tag eine Fracht von fünf Tonnen in den Weltraum schicken zu können. Später ließen sich auch ohne weiteres Aufzüge mit einer Nutzlast von 100 Tonnen und mehr bauen. Die Entwicklungs- und Baukosten für den ersten Aufzug werden auf etwa zehn Milliarden Dollar geschätzt und Edwards glaubt, dass er vom technischen Standpunkt binnen 15 Jahren verwirklicht werden könnte. Spätere Aufzüge gleichen Typs wären im Bau weitaus billiger.

Potentielle Gefahren für den Weltraumaufzug wie Blitzschlag, Stürme, Weltraumschrott, kosmische Strahlung oder auch Terroranschläge sind alle im Rahmen der NIAC-Studie untersucht worden und man kam zu dem Schluss, das keine ein unüberwindliches Hindernis darstellt.

Ein Weltraumlift.
(Bild: HighLift Systems)


Die Vorteile des Weltraumaufzugs liegen auf der Hand: Extrem niedrige Transportkosten, keine „rauen“ Starts wie mit einer Rakete (was den Transport empfindlicher Nutzlasten stark vereinfacht), hohe Sicherheit und Verlässlichkeit, eine sehr hohe Transportkapazität (selbst der erste kleine Aufzug könnte pro Jahr knapp 2000 Tonnen ins All bringen) usw. Außerdem ließe sich über einen solchen Aufzug nicht nur der geostationäre Orbit erreichen, sondern auch entferntere Ziele wie Mond, Mars die Asteroiden etc. Dazu nutzt man ihn wie eine gigantische Schleuder: Jenseits des GEO werden die Zentrifugalkräfte ja immer stärker, so stark, dass sie ausreichen, um ein Raumfahrzeug aus dem Griff der Erdschwerkraft zu befreien und auf eine Bahn zu einem der genannten Himmelskörper zu bringen, man muss nur im richtigen Moment „loslassen“.

Momentan geht es vor allem darum, die Forschung auf dem Gebiet der Carbon Nanotubes voranzutreiben und es fehlt hier auch nicht an Anstrengungen. Sobald CNTs bzw. entsprechende Verbundwerkstoffe in Massenproduktion hergestellt werden können ist der Rest mehr oder weniger einfach: Die Climber und alles andere können mit heutiger Technologie gebaut werden.

Edwards arbeitet inzwischen für das Institute for Scientific Research, nachdem er zuvor mit Michael Laine eine Firma namens Highlift Systems gegründet hatte, um den Weltraumaufzug zu realisieren. Laine und Edwards hatten jedoch Meinungsverschiedenheiten darüber, wie man am besten vorgehen sollte, was schließlich dazu führte, dass man sich einvernehmlich, so heißt es, wieder trennte. Laine hat mittlerweile eine zweite Firma, Liftport, gegründet, die sich das ehrgeizige Ziel gesetzt hat, den ersten Aufzug bis 2018, also in 15 Jahren, in Angriff zu nehmen; auf der Webseite der Firma tickt sogar ein Countdown. Wenn dieser Zeitplan vielleicht auch ein bisschen zu optimistisch erscheint, so scheint doch auch Arthur C. Clarkes Einschätzung, dass der Weltraumaufzug gebaut würde, 50 Jahre nachdem man aufgehört hätte, über die Idee zu lachen, heute zu pessimistisch. Eines steht fest: Mit dem neuen Design von Edwards ist der Bau eines Weltraumaufzugs von einer Sci-Fi-Träumerei zu einer ernstzunehmenden Option für den Zugang zum Weltraum in diesem Jahrhundert geworden.

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