Vor über einem Jahr wurde Estland zur Weltraumnation. Seitdem kreist ein estnischer CubeSat um die Erde, und ein harter Kern von Weltraumenthusiasten wartet darauf, dass er seinen eigentlichen Auftrag erfüllt. Die auf einen elektrisch geladenen Draht wirkende Kraft des Sonnenwindes soll gemessen werden.
Ein Beitrag von Roland Rischer. Quelle: ESTCube Forum, ESTCube Homepage.
„Ein kleiner Schritt für die Menschheit – ein großer für Estland“, könnte man in Anlehnung an Neil Armstrong mit Blick auf den ESTCube 1 sagen. Vor rund einem Jahr und vier Monaten –am frühen Morgen des 07. Mai 2013 europäischer Zeit – startete als Sekundärnutzlast der estnische Minisatellit ESTCube-1 auf Vega VV02 von Kourou aus in den Weltraum. Mit an Bord waren Proba V (Primärnutzlast) und VNREDSat 1A (weitere und viel größere Sekundärnutzlast). Die Mission wird von Studenten der estnischen Universität Tartu betrieben. Tartu erlangte bereits mit ihrer 1811 errichteten Sternwarte im 19. Jahrhundert einige Bedeutung in der astronomischen Forschung. Beteiligt sind auch die Estnische Luftfahrtakademie, die Universität Tallinn, das Finnische Meteorologische Institut und die Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR).
Bereits die involvierten Institutionen lassen vermuten, dass das Projekt bei weitem nicht nur ein studentisches Lernprojekt zum Satellitenbetrieb ist, auch wenn man sich seit dem Start hauptsächlich auf die Beherrschung der Kommunikation sowie die laufende Bestimmung von Position, Ausrichtung und des Verhaltens des Cube-Satelliten (10x10x11 Zentimeter und 1,05 Kilogramm Gewicht) konzentrierte. Dazu dienen Daten von an Bord befindlichen Sonnensensoren, Magnetometern und Gyroskopen. Die Sonnensensoren erlauben die räumliche Positionsbestimmung. Die Magentometer erfassen Ausrichtung und Stärke der irdischen Magnetfeldlinien und dienen als Kompass. Zusammen mit den Sonnensensoren ermöglichen sie eine ziemlich exakte Ermittlung von Ausrichtung und Bewegungsrichtung des Satelliten. Die Gyroskope messen Änderungen der Rotationsachse und –geschwindigkeit von ESTCube 1.
Ferner muss der Energiehaushalt des Cube-Satelliten mit seinen sechs kleinen Panels à 2 Solarzellen über die relativ lange Flugdauer ausgeglichen gestaltet werden. Ein Panel liefert 2,4 Watt, je nach Sonnenausrichtung können bis zu 3,6 Watt erzeugt werden. Im Juli 2014 wurde festgestellt, dass die Solarzellen-Leistung auf 60 Prozent abgesunken ist. Deshalb wurden zugunsten der Batterie-Aufladung einige Subsysteme abgeschaltet. Sie wurden nur bei Bedarf und ausreichender Batterieladung aktiviert. Weil das Aufladen unter diesen Umständen zu lange dauerte, wurde die Bordsoftware dahingehend angepasst, dass nun alle Subsysteme einschließlich der Kommunikation bis auf das Energiesystem abgeschaltet werden können. Ein Aufladevorgang dauert nun wieder nicht länger als kurz nach dem Start. Die Testplanung wird nicht weiter verzögert.
Das Hauptziel der ESTCube-1-Mission stellt weitgehend weltraumtechnisches Neuland dar. Mittels eines zehn Meter langen und elektrisch positiv aufgeladenen Drahtes soll der Nachweis erbracht werden, dass sich mit Hilfe der Abstoßungskraft elektrisch positiv geladener Plasmateilchen des Sonnenwindes Weltraumkörper beeinflussen lassen. Allein das Ausbringen des Drahtes ist anspruchsvoller, als man gemeinhin denkt, und bisher anscheinend noch nicht zufriedenstellend gelungen. Eine Bordkamera dient primär der optischen Kontrolle dieses Vorgangs. E-Sails stellen letztendlich auch besondere Anforderungen an die Festigkeit des sehr dünnen Drahtes wegen möglicher Treffer duch Mikrometeoriten. Der ESTCube-1-Draht entspricht solchen Anforderungen jetzt schon. Die Drähte werden bei eventueller großtechnischer Anwendung mehrere Kilometer lang sein.
Ein zusätzliches Missionsziel ist, mit der Bordkamera Aufnahmen von der Erde zu liefern, wenn möglich eine Weltraumaufnahme von Estland. Letzteres ist ohne Triebwerk und mit drei Luftspulen-Elektromagneten (Magnettorquer) zur Lageregelung schon einigemaßen ambitioniert, aber im April 2014 gelungen. Magnettorquer nutzen das Erdmagnetfeld zur Kraftentfaltung aus. Die Erledigung des Missionszieles „Estland-Selfie“ wurde vorgezogen, weil man die Gefahr sah, dass sich der bereits ausgebrachte Draht um den Satelliten wickelt, wenn dieser mit der Kamera zur Erde gedreht wird.
Nun sind seit dem Start (bis zur Freischaltung dieses Artikels) fast 485 Tage vergangen – die ESTCube-Homepage zählt sekundengenau mit. Wenig überraschend kommt nach so langer Wartezeit in der Weltraum-Fangemeinde ab und zu die Frage auf, ob denn das E-Sail-Experiment schon gelaufen sei. Das ist noch nicht der Fall, am 07. August 2014 kam im ESTCube-Forum jedoch endlich die Ankündigung, dass die entsprechenden Vorbereitungen nun in die Endphase gingen. Zuvor müssten aber Probleme, verursacht durch unregelmäßige magnetische Störungen, gelöst werden. Die Ursache ließ sich bislang nicht identifizieren. Die magnetischen Störungen führen zu einer Instabilität der Rotationsachse, die auch durch eine korrigierte Steuerungs-Matrix der Magnettorquer bis Mitte August nicht in den Griff zu bekommen war. Bei Erhöhung der Rotationsgeschwindigkeit dreht sich der Satellit entgegen der ursprünglichen Planung um eine seiner Diagonalen.
Wenn keine Lösung des Problems gefunden wird, wird man das E-Sail-Experiment mit der Drehung um die Diagonalachse durchführen. Dies sei, so die Aussage im ESTCube Forum, zwar nicht die günstigste Versuchsanordnung, erlaube aber ebenfalls das erfolgreiche Ausbringen des E-Sail-Drahtes und die Messung der darauf wirkenden Kräfte.
Das kontrollierte Hoch- und Herunterfahren der Rotation war Ziel weiterer Übungen und auch einiger Software-Anpassungen. So führte eine unzureichende Zeitsychronisation mit den Sonnensensoren dazu, dass die Ausrichtung des Satelliten vom Bordcomputer falsch berechnet und das Beschleunigen der Rotation abgebrochen wurde. Die 15. Software-Aktualisierung heilte dieses Problem. Höhere Winkelgeschwindigkeiten verlangen zudem eine höhere Frequenz beim Ansprechen der Magnettorquer. Das hätte die elektrische Stromversorgung unvorhergesehenen Belastungen aussetzen können. Die erwähnte Software-Aktualisierung brachte auch hier anscheinend eine Lösung, die aber noch sorgfältig ausgetestet werden muss.
Über die Diagonalachse kann ESTCube 1 inzwischen Winkelgeschwindigkeiten zwischen 10 und 280 Grad pro Sekunde ansteuern. Die estnischen Studenten haben bei der Lösung aufkommender Probleme dabei nicht nur viel gelernt. Sie sind auch stolz darauf, dass ESTCube 1 einer der wenigen Satelliten unter studentischer Verantwortung ist, der eine gezielte Steuerung der Rotation bis zur genannten Winkelgeschwindigkeit erlaubt.
Der E-Sail-Draht wird erst bei einer Umdrehung pro Sekunde ausgebracht. Dies sind noch ein paar Winkelgrade mehr, als bislang erreicht und beherrscht werden. Da der Draht nur einmal abgewickelt werden kann, darf es bei der Berechnung der Satelliten-Ausrichtung keinerlei Zweifel an der Richtigkeit geben. Da bleibt im Endspurt also noch einiges zu tun.
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