XXXV. ASE Planetary Congress in Noordwijk: Interview mit Jerry Ross

Im Rahmen des XXXV. ASE Planetary Congress hatten Kirsten Müller und Ingo Muntenaar die Gelegenheit ein Interview mit NASA-Astronaut Jerry Ross zu führen.

Autor: Kirsten Müller und Ingo Muntenaar, Quelle: ASE, NASA, Jerry Ross. 12. Oktober 2024.

Manchmal ist Vorsicht die Mutter der Porzellankiste. So zumindest haben die beiden Berichterstatter Kirsten Müller und Ingo Muntenaar von Raumfahrer.net agiert, als sie im Rahmen des XXXV. ASE Planetary Congress in Noordwijk versucht haben, den Raumfahrer Jerry L. Ross um ein Interview zu bitten. Als in der Anfrage das Adjektiv „harmless” (harmlos) auftauchte, war Jerry Ross gleich Feuer und Flamme. Wir dürften ihn im Laufe des ASE-Kongresses gerne für ein paar Fragen ansprechen.

Jerry Ross, Astronaut mit sieben Raumflügen
(Quelle: NASA)

Zuerst aber mal ein paar Hintergrundinformationen zu der Astronautenlegende Jerry Ross.

Jerry Ross wurde 1948 im U.S. Bundesstaat Indiana geboren. Er hat seinen Bachelor- und Masterabschluss im Fach Maschinenbau 1970 bzw. 1972 an der Purdue-Universität erlangt.

Danach trat er den aktiven Dienst in der U.S. Luftwaffe an. Ross wurde der Staustrahltriebwerksabteilung des Air Force Aero-Propulsion Laboratory auf der Wright-Patterson Air Force Base in Ohio zugeteilt, um computergestützte Konstruktionsstudien zu Staustrahlantriebssystemen durchzuführen.

Anschließend wurde er Projektingenieur für die Erprobung eines Überschall-Staustrahlflugkörpers und danach Projektleiter für die vorläufige Konfigurationsentwicklung des strategischen Flugkörpers ASALM.

Ab Juni 1974 wurde er für ein Jahr zum Laborleiter der Staustrahltriebwerksabteilung bestellt. 1976 schloss er den Kurs für Flugversuchsingenieure an der USAF-Testpilotenschule ab und wurde anschließend des 6510th Test Wing auf der Edwards Air Force Base in Kalifornien zugeteilt.

Dort war er Projektingenieur und bewertete die Flugeigenschaften der auf dem Tankflugzeug KC-135 basierende Modifikation des RC-135S Aufklärungsflugzeuges. Im Anschluss daran war er als leitender B-1-Flugtestingenieur verantwortlich für die Stabilitäts- und Kontrolltests sowie die Flugsteuerungssysteme des B-1A-Flugzeugs. In dieser Funktion war er zusätzlich für die Ausbildung und Beaufsichtigung aller B-1-Flugversuchsingenieure der Air Force zuständig

Im Februar 1979 wurde Ross in die Abteilung für Nutzlastoperationen im Lyndon B. Johnson Space Center als Nutzlastoffizier/Flugkontrolleur versetzt. In dieser Position war er für die flugbetriebliche Integration von militärischen Nutzlasten in das Space Shuttle verantwortlich.

Im Mai 1980 wurde Jerry Ross als Astronaut in der 9. NASA-Auswahlgruppe aufgenommen.

Seinen ersten Raumflug absolvierte Jerry Ross als Missionsspezialist der Mission STS-61B an Bord des Space Shuttle Atlantis vom 26. November 1985 bis zum 3. Dezember 1985. Neben dem Aussetzen zweier Nachrichtensatelliten war die Erprobung neuer Technologien zum Aufbau großer Strukturen in der Nutzlastbucht wesentlicher Bestandteil dieser Mission. Jerry Ross und Woody Spring absolvierten dazu zwei Weltraumspaziergänge von insgesamt 12 Stunden und 13 Minuten.

Der zweite Flug an Bord des Space Shuttle Atlantis war die Mission STS-27 im Auftrag des U.S. Verteidigungsministeriums vom 2. Dezember bis zum 7. Dezember 1988.

Raumflug Nr. 3 hat Jerry Ross vom 5 April bis zum 11. April 1991 an Bord des Space Shuttle Atlantis / STS-37 absolviert. Priorität hatte dort das Aussetzen des Gamma Ray Observatory. Ross führte gemeinsam mit Jay Apt abermals 2 Weltraumspaziergänge mit einer Gesamtdauer von 13 Stunden und 7 Minuten durch. Schwerpunkte dieser beiden EVAs war ein unplanmäßiger Raumspaziergang, um das Ausfahren der High-Gain-Antenne des GRO manuell zu unterstützen. Der zweite Raumspaziergang war fest eingeplant und dort wurden u.a. Techniken erprobt, die das Verschieben von großen Strukturen im Weltraum ermöglichen.

Der vierte Raumflug mit der Designation STS-55 war die von Deutschland verantwortete Spacelab-Mission D-2 auf dem Space Shuttle Columbia. Jerry Ross war hier der Payload Commander. Die Mission lief im Zeitraum 26. April 1993 bis zum 6. Mai 1993.

STS-74 war der fünfte Raumflug von Jerry Ross. Dieser fand an Bord des Space Shuttle Atlantis vom 12. November – 20. November 1995 statt. Während dieser Mission dockte das Space Shuttle an die Mir-Station an. Nutzlast war das Mir Docking-Modul, welches fest an die Mir-Station angekoppelt wurde.

Die Mission STS-88 / Endeavour war der erste U.S. Flug, welcher Bauteile für die Internationale Raumstation in den Weltraum brachte. Der Flug fand vom 4. Dezember – 16. Dezember 1998 statt und das Knotenmodul Unity wurde mit dem Remote Manipulator System aus der Nutzlastbucht an das russische Modul Zarya angedockt. Auch hier absolvierte Jerry Ross mit seinem Partner James Newman 3 Weltraumspaziergänge mit einer Gesamtdauer von 21 Stunden und 22 Minuten, um Kabel zwischen Unity und Zarya zu ziehen, sowie Ausrüstungsgegenstände vorläufig an dem Unity-Modul zu verankern.

Seinen letzten Raumflug absolvierte Jerry Ross an Bord des Space Shuttle Atlantis vom 8. April – 19. April 2002. Mit der Mission STS-110 / ISS-13-8A wurden das Bauteil ITS (Integrated Truss Segment) S0 und der Mobile Transporter (MT) in den Weltraum gebracht und an die Internationale Raumstation montiert. Gemeinsam mit Lee Morin absolvierte Jerry Ross 2 der 4 EVAs. Die Dauer der Weltraumausstiege von Ross auf dieser Mission beliefen sich auf 14 Stunden und 7 Minuten.

Die Bilanz der Astronautentätigkeiten von Jerry Ross in nackten Zahlen sieht folgendermaßen aus. Sieben Space Shuttle Flüge, davon 5 mit dem Orbiter Atlantis und jeweils eine Mission mit Columbia und Endeavour. Die Missionsdauer seiner Flüge addiert sich auf 58 Tage und 51 Minuten. Dabei verbrachte er bei seinen 9 Weltraumspaziergängen insgesamt 57 Stunden und 55 Minuten im freien Weltraum.

Jerry Ross hat als aktiver NASA Astronaut sämtliche Space Shuttle Flüge von der ersten Mission STS-1 (gestartet am 12. April 1981) bis zum letzten Shuttle Flug STS-135 (gelandet am 21. Juli 2011) in Support-Funktionen unterschiedlichster Art begleitet.

US-Astronaut Jerry Ross beim ESTEC Open Day 2024 (Quelle: Kirsten Müller)

Nachfolgend das Interview, welches wir am 1. Oktober 2024 mit Jerry Ross (im Interview mit J.R. abgekürzt) im Rahmen des XXXV ASE Planetary Congresses in Noordwijk, Niederlande haben führen dürfen.

Raumfahrer.net (R.N.): Hatten Sie einen Masterplan für Ihr Leben? Wann haben Sie angefangen, Astronaut werden zu wollen? Oder war das Ganze eher ein Zufall: “Mal sehen, was die Zukunft bringt, ich versuche es einfach mal”. Wann haben Sie sich für eine Karriere als Astronaut entschieden?

Jerry Ross: Als ich im 4. Schuljahr war, wurden die ersten Satelliten gestartet. Ich habe mich für ein Universitätsstudium im Bereich Ingenieurwissenschaften in meinem Heimatstaat Indiana entschieden. Ich wollte unbedingt in dem U.S. Raumfahrtprogramm mitarbeiten. Zu dem Zeitpunkt gab es noch keine Astronauten. Viele träumten davon in den Weltraum zu fliegen, aber es gab die Berufsbezeichnung Astronaut noch nicht.

Später flogen dann die ersten Menschen in den Weltraum und dann irgendwann flogen die ersten Menschen zum Mond. Daraufhin veränderte sich mein Berufsziel und ich wollte Astronaut werden.

Ich ging an die Testpilotenschule und wurde zum Flugtestingenieur ausgebildet. Das alles waren Dinge, von denen ich hoffte, das sie mich dazu besonders qualifizierten, eines Tages ein Astronautenkandidat zu werden.

R.N.: Sie sind insgesamt sieben Space Shuttle-Missionen geflogen. Die erste war STS-61B und ich habe noch ganz genau die Fernsehbilder vor Augen, wie Sie gemeinsam mit Woody Spring in den Weltraum ausgestiegen sind, um die Struktur EASE / ACCESS zu montieren.

J.R.: …und dann haben Sie auch mein breites Grinsen während meines Weltraumausstiegs gesehen.

R.N.: Dann sind Sie die Mission STS-27 geflogen. Das war eine DoD-Mission (Mission im Auftrag des amerikanische Verteidigungsministeriums). Dazu kommen wir aber später nochmals zurück. Wie hat sich das Training nach der Mission STS-51L (Challenger- Unglück am 28. Januar 1986) verändert?

J.R.: Wir haben nach STS-51L Druckanzüge getragen. Diese haben uns das Leben nicht einfacher gemacht. Bei Start und Landung waren diese Anzüge sehr unbequem. Ansonsten ist eigentlich alles beim Alten geblieben.

R.N.: Nach der STS-51L Mission wurden viele Modifikationen am Orbiter durchgeführt. Hatten diese einen Einfluss auf Ihr Training?

J.R.: Ein kleines bisschen. Wir mussten lernen, wie wir mit dem Druckanzug umzugehen haben. Wie verhält sich dieser Anzug beim Start und wie bei der Landung. Wir mussten auch lernen wie wir bei einem Notfall mit dem Rettungssystem aus dem Orbiter entlang der Teleskopstange (Escape Pole) herausgleiten konnten.

R.N.: Waren Sie der Meinung, dass diese Rettungsmöglichkeit mit ausziehbarer Stange funktioniert hätte?

J.R.: Wir haben das in Flugzeugen mit Test-Dummies ausprobiert und es hat funktioniert. Und ich glaube das dieses System von einem Fallschirmspringer getestet wurde.

R.N.: Kommen wir nochmal auf Ihre Mission STS-27 zurück. Dieses war eine Mission für das Verteidigungsministerium. Wenn Sie mir jetzt Informationen über diesen Geheimauftrag geben, müssten Sie mich anschliessend töten.

J.R.: Keine Angst, ich würde Sie nicht töten. Sie sind ein netter Kerl. Daher würde ich Sie am Leben lassen.

R.N.: Sie mussten sich also für diese Mission entsprechend vorbereiten. Diese Informationen bzw. Dokumentationen waren streng geheim und unterlagen somit hohen Sicherheitsauflagen. Durften Sie die Dokumente nur in einem SCIF – Sensitive Compartmented Information Facility anschauen? (Anmerkung der Redaktion: Als Sensitive Compartmented Information Facility (SCIF) wird von den Sicherheitsbehörden der Vereinigten Staaten jeder Bereich bezeichnet, in dem Quellen, Vorgehensweisen und Sensitive Compartmented Information (SCI, „sensible, abgeteilte Informationen“) gelagert, verwendet und erörtert werden.)

J.R.: Wir hatten Vorgehensweisen, die Flugdaten, Checklisten, etc. verschlossen in Safes aufzubewahren. Und wir hatten Bereiche, in denen wir vertrauliche Gespräche zu sensitiven Informationen führen konnten.

R.N.: Ich habe in Ihrem Buch (Anmerkung der Redaktion: „Spacewalker“ von Jerry Ross) gelesen, dass Sie nach dem Flug vom Verteidigungsministerium Auszeichnungen erhalten haben. Sie durften Auszeichnungen nur an diesem Ort betrachten und konnten sie nicht mitnehmen. War das eine Anekdote?

J.R.: Man hat unserer Crew diese Auszeichnungen verliehen. Es wurden Photos gemacht und anschliessend wurden sowohl diese Photos als auch die Auszeichnungen in einem Tresor verschlossen. Man sagte uns, dass wir jederzeit vorbeikommen könnten um uns die Auszeichnungen anzuschauen.

R.N.: Ist das nicht verrückt?

J.R.: Und ob es das ist.

R.N.: Sie sind fünfmal mit Atlantis geflogen und jeweils einmal mit Columbia und Endeavour. Gab es zwischen diesen Orbitern Unterschiede?

J.R.: Es gab fast keine Unterschiede. Columbia sah ein bisschen anders aus. Aber Atlantis und Endeavour waren fast identisch. Columbia war der erste Orbiter und auch schwerer als die anderen.

R.N.: Columbia ist aber doch hauptsächlich für Spacelab-Flüge eingesetzt worden.

J.R.: So haben wir sie letztendlich genutzt.

R.N.: Sie sind niemals für eine Langzeitmission nominiert worden. War das für Sie niemals eine Option? Sind Sie niemals gefragt worden, oder wollten Sie von sich aus nicht?

J.R.: Ich bin mal gefragt worden ob ich an einer Langzeitmission an Bord der russischen Raumstation Mir teilnehmen möchte. Aber ich habe das Angebot abgelehnt. Letztendlich habe ich in meiner ganzen Laufbahn darauf hingearbeitet, mit meiner Erfahrung durch meine Weltraumspaziergänge, die Internationale Raumstation mit aufzubauen. Irgendwann waren wir an einem kritischen Punkt angelangt und ich wollte den Bau der Internationalen Raumstation nicht durch einen für mich möglichen Mir-Langzeitflug verzögern oder gefährden. An dieser Stelle möchte ich nicht angeben, aber ehrlich gesagt denke ich, das ich mit meiner Arbeit geholfen habe, die Internationale Raumstation zu retten. Wir haben Sachen herausgefunden, die noch vor dem Start korrigiert werden mussten. Hätten wir diese Fehler nicht gefunden, wäre die Raumstation möglicherweise niemals zu Ende gebaut worden.

R.N.: Ich kann mich daran erinnern, dass Sie während der STS-37 Mission bei Ihrem Weltraumspaziergang den Prototypen des CETA-Cart getestet haben, Bei STS-61B haben Sie die EASE/ACCESS-Struktur gebaut und bei anderen EVAs wichtige Werkzeuge zum Bau der Raumstation ausgetestet.

J.R.: Und ich habe der NASA vorgeschlagen wesentlich mehr EVAs für zukünftige Shuttle-Flüge einzuplanen, damit wir genügend qualifiziertes Personal für Weltraumspaziergänge ausbilden können. Möglichst viele Astronauten sollten diese Expertise durch Aussenbordeinsätze aufbauen. Sobald diese Astronauten diese Fähigkeiten im Weltraum demonstriert hatten, konnten sie ihre Erfahrungen an weiteres Personal weitergeben.

R.N.: Eine letzte Frage noch. Welches war Ihrer Meinung nach Ihr wichtigster Flug, und an welchen Flug haben Sie die schönsten Erinnerungen?

J.R.: Wenn ich mir einen Flug heraussuchen soll, dann würde ich die Mission STS-88 nehmen. Mit diesem Flug haben wir den Aufbau der Internationalen Raumstation eingeleitet. Wenn diese Mission fehlgeschlagen wäre, dann hätte es keine ISS gegeben. STS-88 war also ein sehr kritischer Flug für unsere langfristige Raumfahrtplanung.

Welchen Flug ich am meisten geliebt habe? Alle.

R.N.: Also, wenn mir ein Flug angeboten worden wäre, dann hätte ich auch jeden Flug genommen.

J.R.: Menschen fragen mich immer wieder, welchen meiner sieben Flüge ich am schönsten fand. Das ist dann immer wie die Frage an eine Mutter, welches ihrer sieben Kinder sie am meisten liebt.

Aber wenn ich unbedingt eine Mission benennen müsste, dann würde ich die erste Mission nehmen.

Es war mein erster Flug, ich habe zum ersten Mal die Schönheit der Erde aus dem Weltraum gesehen und ich habe zwei Aussenbordeinsätze gemacht.

R.N.: Wir bedanken uns recht herzlich für das Interview und hoffen, das es sich wirklich so harmlos angefühlt hat.

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