GOCE – Logbuch zum Missionsende (Updates)

Es war ein Ende mit sehr langer Ansage. Bereits Mitte September berichtete die ESA, dass ihrem im erdnahen Orbit sonnensynchron kreisenden Satelliten GOCE (Abkürzung für Gravity field and steady-state Ocean Circulation Explorer) in Kürze der Treibstoff ausgehen wird. Da der Widerstand der Restatmosphäre in dieser Höhe damit nicht mehr kompensiert werden konnte, war der Absturz nur noch eine Frage von wenigen Wochen.

Ein Beitrag von Roland Rischer. Quelle: ESA, ESA-Blog Rocket Science, Twitter ESA Operations, Raumcon.

ESA
Inspektion der Solarzellen von GOCE im Jahr 2008
(Bild: ESA)

Die Erfolgsmission GOCE ist dem ersten Anschein nach undramatisch zu Ende gegangen. Der ESA-Satellit, der über vier Jahre unter anderem das Schwerefeld der Erde mit unerreichter Präzision vermessen hat, brach am frühen Morgen des 11. November 2013 nach dem Eintritt in die dichteren Schichten der Erdatmospäre auseinander und verglühte größtenteils. Letzter Funkkontakt bestand am 10. November um 23.42 Uhr. Die letzte Hochrechnung des Wiedereintrittszeitraumes lautete auf 23.50 Uhr bis 01.50 Uhr. Die ESA sprach in einer ersten Festlegung von “gegen 01.00 Uhr MEZ”. Das Eintrittsgebiet konnte zu diesem Zeitpunkt ebenfalls noch nicht genauer lokalisiert werden, der Abstiegsorbit lag laut ESA aber hauptsächlich über Sibirien, dem östlichen Indischen und westlichen Pazifischen Ozean sowie der Antarktis. Der Südatlantik wird nicht ausdrücklich erwähnt, ist aber die logische Fortsetzung der Flugbahn. Beim Eintritt hatte GOCE eine Geschwindigkeit von etwa 25.000 Stundenkilometer. Bis zu 200 Kilogramm oder 20 Prozent der Satellitenmasse, verteilt auf rund ein Dutzend Bruchstücke, könnten laut ESA die Erd- oder besser Wasseroberfläche erreicht haben.

Ein kontrollierter Wiedereintritt war bei GOCE nicht vorgesehen. Offensichtlich wurde es bei der Planung der Mission auch nicht zur Prinzipienfrage erhoben. Es war letztendlich ein Spiel mit Wahrscheinlichkeiten, die zugegebenermaßen für diese Strategie sprachen, denn der größte Teil der Erde ist extrem dünn besiedelt oder unbewohnt. In Sachen Gefährdung menschlichen Lebens ging es um Unglückswahrscheinlichkeiten im Billionstel-Bereich. Auf circa 1 zu 35 Billionen lauten die Schätzungen – oder 1/250.000 der Chance auf den Gewinn des deutschen Lotto-Jackpots (die liegt bei 1/140 Millionen, Anm. d. Red.), wie es von Prof. Heiner Klinkrad, ESOC-Chef und Leiter des ESA-Büros für Weltraumschrott, anschaulicher erklärt wurde. Ohne aktive Steuerungsmöglichkeiten waren die Prognosen des Wiedereintrittszeitpunktes und -ortes aufgrund von Zufallseinflüssen bis etwa einen halben Tag vor Schluss mit großer Unsicherheit behaftet. Eine aktive Steuerungsmöglichkeit wäre jedoch zu Lasten der wissenschaftlichen Instrumente gegangen und hätte der Mission vermutlich mehr oder weniger die Rechtfertigung genommen.

Die Wiedereintrittsprognose hängt von Zufallsfaktoren wie dem plötzlichen Verlust der optimalen Ausrichtung des Satelliten (beispielsweise durch “Aufbäumen“) in der zunehmend dichter werdenden Restatmosphäre, der Funktionsfähigkeit der Höhenkontrolle, der Sonnenaktivität und dem Verhalten des Erdmagnetfeldes ab. Laut Christoph Steiger, GOCE Spacecraft Operations Manager bei der ESOC in Darmstadt, war es das Ziel, auch in der Endphase die Funktionsfähigkeit des Satelliten so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. In dieser Extremsituation jenseits aller konstruktiven Anforderungen liefern die Messinstrumente von GOCE seltene Erfahrungswerte. Die Missionsanalyse durch Flugdynamiker ist ein wichtiger Aufgabenbereich. Das ESOC liefert mit den gewonnenen Daten Informationen für den Bau künftiger Satelliten. Datenaustausch und Ortung werden jedoch zu einer zunehmenden Herausforderung für die Bodenstationen.

Die letzten Tage und Stunden von GOCE stellten sich wie folgt dar (die Zeiten sind zum Teil circa-Angaben in MEZ):

  • 13.09.2013: Seitens der ESA wird offiziell mitgeteilt, dass die GOCE-Mission mangels Treibstoff absehbar zu Ende gehen wird. Entscheidend für das Abschalten des Ionen-Triebwerks ist der Druck im Xenon-Tank. Theoretisch wird es unter 2,5 bar kritisch.
  • 14.10.2013: Druck im Xenon-Tank liegt bei 5 bar. Die Orbithöhe beträgt 224 Kilometer.
  • 18.10.2013: Im Tank werden 2,5 bar gemessen. Der Rest an Xenon im Tank wird auf 350 Gramm von einst 40 Kilogramm geschätzt. Auch unterhalb des kritischen Drucks läuft das Triebwerk noch einige Tage weiter.
  • 21.10.2013: Die Triebwerksabschaltung erfolgt, das Ende der Mission wird erklärt. Der Satellit bewegt sich zu diesem Zeitpunkt in rund 220 Kilometer Höhe.
  • 01.11.2013: GOCE ist inzwischen auf 205 Kilometer Höhe angekommen, der Wiedereintrittstermin wird von Prof. Volker Liebig vom ESA-Erdbeobachtungszentrum in Frascati auf den 06. November plus/minus drei bis vier Tage eingegrenzt.
  • 04.11.2013: Die Flughöhe beträgt 192 Kilometer. Die Abstiegsrate wird mit 4 Kilometer pro Tag angegeben.
  • 08.11.2013: Die Umlaufbahn erreicht 170 Kilometer. Die Abstiegsrate hat sich auf über 8 Kilometer pro Tag mehr als verdoppelt. Der atmosphärische Widerstand beträgt 50 Millinewton. Erstmals wird der Wiedereintrittstermin auf die Nacht vom 10. auf den 11. November eingegrenzt, wenn GOCE auf rund 80 Kilometer abgesunken ist und in dieser Höhe auseinanderbrechen dürfte. Das liegt an der oberen Grenze des Prognosekorridors vom 01. November.
  • 09.11.2013: Der Verlust an Höhe wird auf über 13 Kilometer pro Tag beziffert. Die Flughöhe beträgt 160 Kilometer. Der durch die Restatmosphäre verursachte Widerstand erreicht 90 Millinewton. Die Lageregelung arbeitet anstandslos, in verschiedenen Teilen des Raumfahrzeugs werden jedoch ansteigende Temperaturen gemessen, weiteres Indiz für die zunehmende Atmosphärendichte.
  • 10.11.2013, 11.20 Uhr: Die Höhe beträgt grob 147 Kilometer. Der Abstieg erfolgt jetzt mit einem Kilometer pro Stunde. Der Atmosphärenwiderstand kann nicht mehr genau gemessen werden. Die Modellschätzungen gehen von 165 Millinewton aus. Der Widerstand überschreitet die in der GOCE-Konstruktion unterstellten Planwerte um das Fünfzehnfache. Die Fluglage ist stabil. An der Spitze von GOCE sind die Temperaturen in den letzten 24 Stunden um 13 Grad Celsius gestiegen. Für die Funktionsfähigkeit von GOCE ist das laut Christoph Steiger noch nicht bedrohlich.
  • 10.11.2013, 13.00 Uhr: Der Wiedereintritt wird auf den Zeitraum zwischen 19.30 Uhr und 01.00 Uhr eingegrenzt.
  • 10.11.2013, 16.40 Uhr: Die Höhe beträgt 133 Kilometer. Der Abstiegsrate hat sich um 50 Prozent auf 1,5 Kilometer pro Stunde beschleunigt. Der Atmosphärenwiderstand liegt bei 200 Millinewton. Die Temperatur des im vorderen Teil des Satelliten befindlichen Bordrechners beträgt 40 Grad Celsius gegenüber 25 Grad anderthalb Tage zuvor. Der Wiedereintritt kann laut Heiner Klinkrad auf plus/minus zwei Erdorbits vorausgesagt werden. Europa wird mit hoher Wahrscheinlichkeit als betroffenes Gebiet ausgeschlossen. Christoph Steiger berichtet von einem aktuellen Kontakt zwischen GOCE und der KSAT Bodenstation in Svalbard auf Spitzbergen. Es stünden nur noch wenige Kontaktmöglichkeiten bevor, von denen man so viele wie möglich herstellen möchte.
  • 10.11.2013, 18:30 Uhr: Kontakt mit der ESTRACK-Station in Kiruna, GOCE bewegt sich unter 130 Kilometer. Die Temperatur von Bordrechner und Batterien beträgt 45 Grad Celsius.
  • 10.11.2013, 19.56 Uhr: Ein weiterer Kontakt mit der ESTRACK-Station in Kiruna kommt zustande. GOCE ist auf unter 126 Kilometer abgesunken. Am Bordrechner werden 50 Grad Celsius gemessen.
  • 10.11.2013, 20:50 Uhr: Der Kontakt mit der norwegischen Troll Satellite Station in der Antarktis gelingt. Die Temperatur des Bordrechners ist auf 54 Grad Celsius angestiegen.
  • 10.11.2013, 23.42 Uhr: Erneuter Kontakt mit der Troll Satellite Station. Im Bordrechner wird eine Temperatur von 80 Grad Celsius gemessen. Auch in nunmehr rund 120 Kilometer Flughöhe funktioniert GOCE entgegen allen Erwartungen.
  • 11.11.2013, 01.30 Uhr: Der Kontakt ist verloren. Es wird keine Kommunikation mehr mit GOCE erwartet. Der Satellit ist zu diesem Zeitpunkt höchst wahrscheinlich bereits verglüht, so das implizite Fazit im ESA-Blog. Teams der ESA warten jetzt auf Daten aus der Radarverfolgung, um die Endphase zu rekonstruieren.
ESA/AOES Medialab
Künstlerische Impression von GOCE im niedrigen Erdorbit
(Bild: ESA/AOES Medialab)

Update 11.11.2013, 19:55 Uhr:
Im Verlauf des Vormittags teilt die ESA offiziell mit, dass GOCE um 01:16 Uhr MEZ in etwa 80 Kilometer Höhe über dem Südatlantik bei 60 Grad westlicher Länge und 56 Grad südlicher Breite, also nahe der Falklandinseln, verglühte. Die Überreste sind in den Ozean gefallen. Den Angaben liegen Schätzungen des ESA Space Debris Office und des U.S. Strategic Command zugrunde. Eine direkte Beobachtung des Wiedereintritts ist offensichtlich nicht gelungen.

Update 12.11.2013, 19:30 Uhr:
GOCE hat doch noch ein würdiges “Abschiedsbild” bekommen (siehe hier). Bill Chater hat es zufällig am 10. November 2013 um 21.20 Uhr Ortszeit auf den Falklandinseln aufgenommen. Ausgehend von Mitteleuropäischer Zeit (MEZ) beträgt die Zeitverschiebung zur Ortszeit auf den Falklandinseln minus vier Stunden. Von daher decken sich die Zeitangaben von Bill Chater sehr gut mit den Modellberechnungen von ESA und U.S. Strategic Command, die auf 01.16 Uhr MEZ am 11. November 2013 kamen. Chater beobachtete in der Abenddämmerung eine von Süden nach Norden ziehende Leuchtspur, die erst in zwei und dann in mehrere Teile zerfiel. Geistesgegenwärtig konnte er die Aufnahme machen. Die ESA hat im Laufe des 12. November 2013 bestätigt, dass es sich um den verglühenden GOCE handelt.

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