Die Rotationsachse der Erde verschiebt sich aufgrund von Klimawandel und Bewegungen im Erdinnern. Die damit verbundene Polbewegung wird durch Massenverlagerungen wie das Schmelzen der polaren Eismassen ausgelöst. Eine Pressemitteilung der ETH Zürich.
Quelle: ETH Zürich 15. Juli 2024.
15. Juli 2024 – Forschende der ETH Zürich haben in der bislang umfassendsten Modellierung – sowie mit KI-Methoden – zum ersten Mal die verschiedenen Ursachen der langfristigen Polbewegung vollständig erklären können. Ihr Modell und ihre Beobachtungen zeigen, dass Klimawandel und Erderwärmung einen grösseren Einfluss auf die Drehgeschwindigkeit der Erde haben als die Wirkung des Mondes, der seit Milliarden von Jahren die Zunahme der Tageslänge bestimmt.
Durch den Klimawandel schmelzen die Eismassen in Grönland und der Antarktis. Das Wasser aus den Polgegenden fliesst in die globalen Ozeane und vor allem auch in den Äquatorbereich. «Das heisst, es findet eine Massenverlagerung statt, und diese wirkt sich auf die Erdrotation aus», erklärt Benedikt Soja, Professor für Weltraumgeodäsie am Departement Bau, Umwelt und Geomatik der ETH Zürich.
«Man kann sich das so vorstellen, wie wenn eine Eiskunstläuferin bei einer Pirouette die Arme zuerst am Körper hält und dann ausstreckt.» Die anfänglich schnelle Drehung wird dadurch langsamer, weil die Massen sich von der Drehachse entfernen und die physikalische Trägheit zunimmt. In der Physik spricht man vom Gesetz der Erhaltung des Drehimpulses, dem auch die Erdrotationsbewegung gehorcht. Dreht sich die Erde langsamer, werden die Tage länger. Der Klimawandel verändert somit auch die Tageslänge auf der Erde, wenn auch nur minimal.
Unterstützt von der US-amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA haben ETH-Forschende aus Sojas Gruppe zwei aktuelle Studien in den Zeitschriften «Nature Geoscience» und «Proceedings of the National Academy of Sciences» (PNAS) veröffentlicht, wie sich der Klimawandel auf die Polbewegung und die Tageslänge auswirkt.
Klimawandel übertrifft den Einfluss des Mondes
In der PNAS-Studie zeigen die ETH-Forschenden, dass sich durch den Klimawandel auch die Tageslänge von derzeit rund 86400 Sekunden um einige Millisekunden erhöht. Denn Wasser fliesst von den Polen in niedrigere Breiten und verlangsamt dadurch die Rotationsgeschwindigkeit.
Eine andere Ursache für diese Verlangsamung ist die Gezeitenreibung, die vom Mond ausgelöst wird. Die neue Studie kommt dabei zu einem überraschenden Ergebnis: Wenn die Menschen weiterhin mehr Treibhausgase ausstossen, und sich die Erde dementsprechend erwärmt, hätte dies letztendlich einen grösseren Einfluss auf die Drehgeschwindigkeit der Erde als die Wirkung des Mondes, der seit Milliarden von Jahren die Zunahme der Tageslänge bestimmt. «Wir Menschen haben einen grösseren Einfluss auf unsere Erde als wir denken», schliesst Benedikt Soja, «und daraus resultiert natürlich auch eine grosse Verantwortung für die Zukunft unseres Planeten.»
Die Drehachse der Erde verschiebt sich
Die durch die Eisschmelze bedingten Massenverlagerungen auf der Erdoberfläche und im Erdinnern verändern aber nicht nur die Rotationsgeschwindigkeit und die Tageslänge der Erde: Wie die Forschenden in «Nature Geoscience» zeigen, verschieben sie auch die Rotationsachse. Das heisst, die Punkte, wo die Drehachse konkret auf die Erdoberfläche trifft, wandern. Diese Polbewegung können die Forschenden beobachten. Längerfristig liegt sie im Bereich von etwa zehn Meter pro hundert Jahre. Dabei spielen nicht nur das Abschmelzen der Eisschilde eine Rolle, sondern auch Bewegungen, die im Innern der Erde stattfinden. So kommt es tief im Erdmantel, in dem das Gestein durch den hohen Druck zähflüssig wird, über längere Zeiträume zu Verlagerungen. Und auch im äusseren Erdkern, der aus flüssigem Metall besteht, gibt es Wärmeströmungen, die einerseits das Erdmagnetfeld erzeugen, aber auch zu Massenverschiebungen führen.
Benedikt Soja und sein Team haben nun in der bisher umfassendsten Modellierung aufgezeigt, wie sich die Polbewegung aus den einzelnen Prozessen im Kern, im Mantel und durch das Klima an der Oberfläche ergeben. Ihre Studie ist jetzt in der Zeitschrift «Nature Geoscience» erschienen: «Wir präsentieren zum ersten Mal eine vollständige Erklärung für die Ursachen der langperiodischen Polbewegung», sagt Mostafa Kiani Shahvandi, Doktorand von Soja und Erstautor der Studie: «Wir wissen also jetzt, warum und wie die Rotationsachse der Erde relativ zur Erdkruste wandert.»
Eine Erkenntnis sticht in ihrer «Nature Geoscience»-Studie besonders heraus: dass die Prozesse auf und in der Erde miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen. «Der Klimawandel verursacht eine Bewegung der Erdrotationsachse und es scheint, dass sich durch die Rückkopplung der Drehimpulserhaltung auch die Dynamik des Erdkerns verändert,» erklärt Soja und Kiani Shahvandi ergänzt: «Der anhaltende Klimawandel könnte sich also sogar auf Prozesse tief im Erdinneren auswirken und weiter reichen als bisher angenommen.» Allerdings bestehe kaum Grund zur Sorge. Denn diese Auswirkungen seien gering und es sei unwahrscheinlich, dass davon eine Gefahr ausgehe.
Physikalische Gesetze kombiniert mit künstlicher Intelligenz
Für ihre Studie zur Polbewegung verwendeten die Forscher so genannte physikinformierte, neuronalen Netze. Das sind neuartige Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI), bei denen sich die Forschenden an physikalischen Gesetzen und Prinzipien orientieren, um besonders leistungsstarke und zuverlässige Algorithmen für maschinelles Lernen zu entwickeln. Unterstützung erhielt Kiani Shahvandi dafür von ETH-Mathematikprofessor Siddhartha Mishra, den die ETH Zürich 2023 mit dem Rössler-Preis, ihrem höchstdotierten Forschungspreis auszeichnete, und der ein Spezialist auf diesem Gebiet ist.
So konnten mit den von Kiani Shahvandi erstellten Algorithmen erstmals alle verschiedenen Effekte an der Oberfläche, im Erdmantel und im Erdkern erfasst und ihre möglichen Interaktionen modelliert werden. Das Ergebnis der Berechnungen zeigt, welche Bewegungen die Erdrotationspole seit 1900 zurückgelegt haben. Diese Modell-Werte stimmen hervorragend überein mit den realen Daten, die in der Vergangenheit astronomische Beobachtungen und in den letzten dreissig Jahren Satelliten geliefert haben, und ermöglichen so auch Prognosen für die Zukunft.
Wichtig für die Raumfahrt
«Auch wenn sich die Erdrotation nur langsam ändert, muss man diesen Effekt bei der Navigation im Weltraum berücksichtigen, beispielsweise wenn eine Raumsonde auf einem anderen Planeten landen will», sagt Soja. Denn auch eine Abweichung von nur einem Zentimeter auf der Erde kann über die riesigen Distanzen zu einer Abweichung von hunderten von Metern anwachsen. «Die Landung in einem bestimmten Krater auf dem Mars würde dann nicht klappen», sagt der Wissenschaftler.
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