IceCube: Neues zu Nicht-Standard-Neutrino-Wechselwirkungen

IceCube-Analyse liefert bisher umfassendste Informationen zu Nicht-Standard-Neutrino-Wechselwirkungen. Wissenschaftlerteam des Exzellenzclusters PRISMA+ federführend an neuer Analyse beteiligt. Eine Pressemitteilung der IceCube Kollaboration.

Quelle: Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Blick auf die Amundsen-Scott-Forschungsstation am Südpol. (Bild: Benjamin Eberhardt, NSF)

18. Oktober 2021 – Seit Jahrzehnten gehen Physikerinnen und Physiker davon aus, dass die derzeit beste Theorie zur Beschreibung der Teilchenphysik – das „Standardmodell“ – nicht ausreicht, um unser Universum mit all seinen Facetten zu erklären. Auf der Suche nach neuer Physik jenseits des Standardmodells könnten schwer fassbare Teilchen, so genannte Neutrinos, den Weg weisen. Sie werden auch als „Geisterteilchen“ bezeichnet, weil sie so selten mit Materie wechselwirken, dass sie so gut wie alles durchdringen können. Auf ihrem Weg durch die Materie können sie jedoch je nach Neutrino-Sorte – es gibt drei verschiedene – „verlangsamt“ werden: Dies wird „Materieeffekt“ genannt.

Theorie-Modelle, die über das Standardmodell hinausgehen, werden als BSM-Modelle bezeichnet, wobei BSM für „Beyond Standard Model“ steht. Viele dieser Modelle sagen für Neutrinos zusätzliche, bisher unbekannte Wechselwirkungen mit Materie voraus. Unterschiedliche Neutrino-Sorten können von diesen Wechselwirkungen unterschiedlich stark betroffen sein. Auch hängt die Stärke der daraus resultierenden Materieeffekte von der Dichte der Materie ab, welche die Neutrinos durchqueren. Sollten Forschende Materieeffekte beobachten, die sich als „Nicht-Standard-Wechselwirkungen“ (NSI für nonstandard interactions) erklären lassen, könnte dies auf neue Physik hinweisen.

Das Neutrinoteleskop IceCube besteht aus zahlreichen Lichtsensoren tief im Antarktischen Gletschereis in der Nähe des Südpols.

Schematische Darstellung des Deep Core. (Bild: IceCube Collaboration)

IceCube wurde gebaut, um die Lichtsignaturen von Neutrinos aus dem Weltall zu messen und neue Erkenntnisse zu deren Eigenschaften und Quellen zu gewinnen. Im Zentrum des riesigen Detektors, der insgesamt einen Kubikkilometer Gletschereis umfasst, gibt es eine Gruppe von dichter angeordneten Sensoren, die DeepCore genannt wird. Dieser Teil von IceCube ist empfindlich für Neutrinos mit niedrigerer Energie, die in der Erdatmosphäre erzeugt und anhand derer die Effekte von NSI deutlicher sichtbar werden. In einem gerade in Physical Review D veröffentlichten Artikel beschreibt die IceCube-Kollaboration eine Analyse, in der sie DeepCore-Daten aus drei Jahren Messzeit untersuchte, um festzustellen, ob atmosphärische Neutrinos zusätzliche Wechselwirkungen mit Materie haben. Die neue Analyse setzt erstmals Grenzen für alle Parameter, die zur Beschreibung von NSI verwendet werden. Dies ist eine Verbesserung gegenüber früheren Analysen, die sich nur auf einen NSI-Parameter beschränkten, für den IceCube am empfindlichsten ist.

Wertvolle Botschafter für neue Physik
„Atmosphärische Neutrinos bieten uns eine großartige Möglichkeit, zu testen, ob Neutrinointeraktionen jenseits des Standardmodells existieren, weil die Neutrinos durch die Erde hindurch fliegen, einschließlich ihres Zentrums, das eine sehr hohe Materiedichte hat“, sagt Elisa Lohfink, Doktorandin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und federführend an der aktuellen Veröffentlichung beteiligt. Änderungen in der Materiedichte beeinflussen direkt die Oszillationsmuster der Neutrinos – also die Art und Weise, wie Neutrino-Sorten sich ineinander umwandeln oder „oszillieren“ – und damit auch, welche Sorten von Neutrinos im Detektor ankommen. DeepCore ist aufgrund der großen Anzahl atmosphärischer Neutrinos, die es jedes Jahr nachweist, empfindlich für diese Materieeffekte.

In der von Thomas Ehrhardt, ebenfalls Doktorand an der JGU, geleiteten Analyse untersuchte das Forscherteam die Oszillationsmuster von Neutrinos, die aus allen Richtungen bei DeepCore ankamen. Sie analysierten, ob die Muster besser mit den Vorhersagen des Standardmodells übereinstimmten – oder besser mit Modellen, die neue Wechselwirkungen vorsehen. Konkret überprüften sie dies anhand von fünf effektiven Parametern, welche die Auswirkungen der zusätzlichen Wechselwirkungen auf die einzelnen Neutrino-Sorten darstellen. Die Forscherinnen und Forscher konnten so durch Testen zahlreicher Hypothesen die Bereiche für die effektiven NSI-Parameter einschränken.

Zunächst untersuchten Ehrhardt und seine Kollegen jeden der effektiven Parameter separat. Komplett freie NSI – wobei also alle Parameter gleichzeitig eine Rolle spielen können – wurden anschließend zusätzlich untersucht. Da die Analyse weitgehend unabhängig von den zugrundeliegenden Modellen war, konnten die Forscher NSI einschränken, ohne sich auf die Richtigkeit eines bestimmten Modells zu verlassen.

Im Ergebnis war die IceCube Kollaboration in der Lage, jeden der fünf NSI-Parameter einzeln mit einer Empfindlichkeit einzuschränken, die mindestens mit den Grenzwerten aus globalen Analysen vergleichbar ist – eine Leistung, die Lohfink als „beispiellos“ bezeichnet. Noch wichtiger, so die Forscher, ist die Erkenntnis, dass IceCube nun Modelle testen kann, in denen alle NSI Parameter eine Rolle spielen und gleichzeitig betrachtet werden müssen. „Soweit wir wissen, gibt es kein anderes Experiment auf der Welt, das dies mit einer einzigen Messung schafft“, sagt Sebastian Böser, Professor an der JGU und Mitglied des Exzellenzclusters PRISMA+. „So können wir eine noch nie dagewesene Bandbreite von Modellen für neue Physik im Neutrinosektor testen.“ Das Ergebnis ist eine bedeutende Verbesserung gegenüber früheren IceCube-Analysen, bei denen nur ein NSI-Parameter untersucht wurde.

Das Forscherteam hofft, dass der Rest der Neutrino-Community ihre Ergebnisse aufgreift und in die globalen Analysen einbezieht. Lohfink und ihre Kollegen arbeiten bereits an einer Folgeanalyse mit einer viel größeren Datenmenge – die aus acht statt drei Jahren stammt – und einer viel besseren Empfindlichkeit. Sie hoffen, bald noch genauere Grenzwerte für alle NSI Parameter vorlegen zu können.

„Langfristig wird das IceCube-Upgrade für diese Art der Analyse völlig neue Möglichkeiten eröffnen“, sagt Böser. „Das Upgrade wird nicht nur für eine bessere Kalibrierung sorgen und systematische Unsicherheiten reduzieren, sondern es wird uns auch erlauben, die Neutrino-Oszillationen sehr viel besser aufzulösen und damit mögliche Abweichungen vom Standardmodell viel deutlicher zu sehen. Diese Aussicht begeistert mich!“

Veröffentlichung:
The IceCube Collaboration: R. Abbasi et al. “All-flavor constraints on nonstandard neutrino interactions and generalized matter potential with three years of IceCube DeepCore data” Phys. Rev. D 104, 072006, 15. Oktober 2021
DOI: 10.1103/PhysRevD.104.072006

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Antarktis-Neutrinoteleskop „IceCube“

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