IAC 2018: Interview mit der Sierra Nevada Corporation

Die begleitende Ausstellung des IAC Kongresses 2018 hatte viele Highlights zu bieten. Unter den Ausstellern waren zwei Anbieter kommerzieller Raumtransportsysteme im Rahmen des CRS-2-Abkommens mit der NASA. Mit einem der Aussteller konnte sich Raumfahrer.net ausführlicher unterhalten.

Quelle: Interview.

Bei dem einen Unternehmen handelt es sich um die Sierra Nevada Corporation (SNC), die ihren Firmensitz zwar in Nevada hat, aber die Arbeiten an Raumtransportsystemen in Louisville, Colorado durchführt.

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Mockup des Dream Chasers am Stand von SNC auf dem IAC 2018
(Bild: RN)

Der Messestand von SNC wartete mit einem Mockup des Dream Chaser auf. Die Firmenbroschüre zum Dream Chaser gab nicht viel mehr Informationen her, als bereits in der Öffentlichkeit bekannt waren. Wie kommt man also an zusätzliche Informationen zum Dream Chaser? Wer kann diese Fragen besser beantworten, als ehemalige Astronauten, die mit ihrer Expertise in führenden Positionen das Dream-Chaser-Projekt verantworten. Es sind Steven W. Lindsey, fünffacher Space Shuttle Astronaut (STS-87, STS-95, STS-104, STS-121, STS-133) Senior Director Space Exploration Systems SNC und Lee J. Archambault (STS-117, STS-119), Chief System Engineer und Testpilot.

Beide haben als ehemalige Piloten von Hochgeschwindigkeitsflugzeugen und als Kommandanten von Space Shuttle Missionen sowohl einen Hintergrund im Flight Testing als auch hervorragende Erfahrungen im Missionsbetrieb von bemannten Systemen im Erdorbit, sowie in Rückführung von wiederverwendbaren Systemen im hypersonischen und subsonischen Flugbereich. Steven Lindsey hat SNC auf dem IAC Kongress in Bremen 2018 repräsentiert. Lee Archambault war nicht vor Ort.

Ein erstes Vorfühlen bei der Kommunikationsdirektorin am Messestand am 2. Oktober 2018 wurde mit den Worten „Steve Lindsey hat in den nächsten Tagen sehr viele Gespräche“ abschlägig beschieden. Erst nachdem wir technische Fragen gestellt hatten, die auch eine Kommunikationsmitarbeiterin nicht ausreichend beantworten konnte, wollte sie ein Zeitfenster für uns freischaufeln.

Ein grobes Fragengerüst war bereits vorhanden. Ein erstes Vorfühlen bei Steve Lindsey fand dann beim Public Day des IAC 2018 am 3. Oktober in der ÖVB-Arena statt. Nach der Change of Command Zeremonie (Kommandoübergabezereminie) zwischen Drew Feustel und Alexander Gerst fand sich die Möglichkeit, mit Steven Lindsey ein Gespräch zu beginnen. Durch intensive Vorkenntnisse im Bereich geflügelte, wiederverwendbare Starthilfsraketen und Antriebstechnologie fand sich schnell Gesprächsstoff für einen Small Talk. Erkenntnisse bei uns: Missionsprofil und Wiedereintrittsszenario konnte SNC aus der Technologie von Lifting Bodys und Space Shuttle ableiten. Mögliche Erkenntnisse bei ihm: Da haben Medienvertreter ein bisschen Ahnung. Dann wurde Steve Lindsey von Autogrammwünschen überrollt und die Reporter von Raumfahrer.net gingen auf Sicherheitsabstand.

Donnerstag der 4. Oktober ist bereits der vierte Kongresstag. Die Zeit rennt uns davon. Hat man uns vergessen? Vielleicht ist aber auch nur der Terminkalender von Herrn Lindsey bis zum Bersten gefüllt. Ein IAC Kongress ist ja nicht nur eine Informationstauschbörse. Es werden auch die Fühler nach neuen Kunden ausgestreckt und Geschäftsbeziehungen vertieft. Um 11:30 Uhr kam die erlösende E-Mail von SNC: Gesprächstermin um 13:30 Uhr am Firmenstand. Broschüre noch mal durchgelesen. Was wollen wir fragen? Nein, keine Abfrage von Missionsparametern. Die kann man sich im weltweiten Netz besorgen.

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Auf dem IAC 2018 gezeigte Folie zur Zusammenarbeit SNC – UNOOSA
(Bild: RN / UNOOSA)

Interessant waren für uns die Antworten auf Fragen, die nicht in der Broschüre standen. In einem Trockenlauf gehen wir einzelne Fragenkomplexe durch:

Wahl der Trägerrakete; Abortmodi bei bemannten Flügen; Anflug an die Raumstation; Autonome und manuelle Dockingmöglichkeiten; Nutzlasttransporte im druckbeaufschlagten und nicht druckbeaufschlagten Nutzlastkompartment; Zuständigkeiten verschiedener Kontrollzentren; Rückkehrmöglichkeiten bei Versagen wichtiger Systemkomponenten; Zusammenarbeit mit der UNOOSA (United Nations Office for Outer Space Affairs / Büro der Vereinten Nationen für Weltraumfragen) als Kunde bei einem der ersten Raumstationsflüge; Weitere Nutzungspläne des Dream Chaser außerhalb der Versorgungsflüge zur Raumstation; Einsatzmöglichkeiten für bemannte Flüge.

Zehn Minuten vor dem Interviewtermin melden wir uns am Stand. Uns wird das Setting bekannt gegeben. Steve Lindsey hat zehn Minuten für Fragen reserviert. In der Zeit könnten wir alle unsere gesammelten Fragen herunter beten, hätten aber keine Zeit mehr für Antworten. Also filtern wir, und zwar direkt im Gespräch. Steve Lindsey ist auf die Sekunde pünktlich. Los geht‘s.

Kommunikationsdirektorin Kimberley Schwandt nimmt am Gespräch teil und könnte jederzeit eingreifen und das Gespräch abbrechen. Sie hält allerdings nur die Zeit im Auge. Wir ebenfalls. Wir beginnen mit unseren Fragen nach einer kurzen Vorstellung von Raumfahrer.net.

Raumfahrer.net (RN): Im Rahmen des ASE Planetary Congress 2013 in Deutschland war bei der Eröffnung des raumfahrtmedizinischen Zentrums envihab ein Mockup des Dream Chasers aufgestellt. Gab es eine Kooperation zwischen SNC und dem DLR? Warum hat diese Kooperation geendet?

Steven Lindsey: Es gab tatsächlich ein Kooperationsprogramm zwischen SNC und dem DLR. Im Rahmen des CRS-2 (Commercial Resupply Service) Vertrages arbeitet man nun mit der NASA an unbemannten Versorgungsflügen zur Internationalen Raumstation. Mit dem DLR und mit Europa gibt es weiterhin Gespräche innerhalb des „DC (Dream Chaser) for Human Missions“ Programms, um Möglichkeiten bemannter Transporte mit dem Dream Chaser zur ISS auszuloten. Eine Landung des Dream Chaser nach einem De-Orbit wäre dann auch in Deutschland möglich (Anmerkung der Redaktion: In der Unternehmensbroschüre ist explizit die Landung auf weltweiten Landebahnen aufgeführt.)

RN / SNC
Dream Chaser Missionsprofil – künstlerische Darstellung am SNC-Stand auf dem IAC 2018
(Bild: RN / SNC)

RN: Wenn es doch eine Kooperation zwischen DLR / ESA und SNC gab, warum hat man nicht den Start mit einer Ariane 5 in Erwägung gezogen?

Steven Lindsey: Dream Chaser ist tatsächlich für den Start mit unterschiedlichen Raketen, die dem Markt zur Verfügung stehen, ausgelegt. Das war eine der Designphilosophien. Der Erststart des Dream Chaser erfolgt mit einer Atlas 5. Bei den weiteren Starts innerhalb des CRS-2 Programms schaut SNC allerdings auch auf andere verfügbare kommerzielle Startanbieter. Die Nutzlastverkleidungen der Atlas 5 und der Ariane haben den gleichen Durchmesser. Beide Verkleidungen werden von dem Schweizer Konzern RUAG hergestellt (Anmerkung der Redaktion: Der Durchmesser der Nutzlastverkleidungen von Atlas 5 und Ariane 5 beträgt jeweils 5,4 Meter).

RN: Da haben wir in Europa scheinbar eine Möglichkeit verstreichen lassen. Die Ariane 5 war für den Transport von bemannten Raumtransportsystemen entwickelt worden. Gemeinsam mit dem wiederverwendbaren Raumgleiter Hermes, dem Raumlabor Columbus und der Forschungsplattform MTFF (Man-Tended Free Flyer) gehörte die Ariane 5 zu einem Eckpfeilerprogramm der astronautischen europäischen Raumfahrt. Die Ariane 6 ist leider nicht für den bemannten Raumtransport geeignet.

Steven Lindsey: Die große Herausforderung auf dem kommerziellen Markt unter den Startanbietern ist, dass sich der Markt gerade sehr stark ändert und es zusätzlich einen Preisverfall bei den Startkosten gibt. Jeder Raketenhersteller schaut gerade, wie man die Kosten verringern kann. SpaceX macht das gerade vor, und eine Rakete für die astronautische Raumfahrt zu qualifizieren ist tatsächlich eine Herausforderung.

RN: Der Dream Chaser wird erst unbemannt fliegen?

Steven Lindsey: Im Rahmen des CRS-2 Vertrages mit der NASA wird Dream Chaser unbemannte Flüge absolvieren. Das Vehikel ist da. Es gibt ein Nutzlastabteil im hinteren Bereich. Dream Chaser wird Nutzlasten wie z.B. wissenschaftliche Experimente zur Raumstation bringen. Beim Rückflug wird der Nutzlastadapter abgetrennt. Dieser Teil wird beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre verglühen. Der Nutzlastadapter ist nicht wiederverwendbar.

RN: Während der Startphase ist Dream Chaser von einer Nutzlastverkleidung umgeben?

Steven Lindsey: Ja, aber nur beim Dream Chaser in unbemannter Konfiguration. Bei den bemannten Flügen mit dem Dream Chaser gibt es keine Nutzlastverkleidung.

RN: Kommen wir nochmal auf die unbemannte Version des Dream Chaser zu sprechen. Eine Nutzungsmöglichkeit ist Unterstützung beim Unterhalt der Internationalen Raumstation.

Steven Lindsey: Genau dafür ist der Vertrag CRS-2 angedacht.

RN: Nach dem Einschuss in die Umlaufbahn gibt es eine Transferphase zur Internationalen Raumstation. Wie sieht der Docking-Prozess aus? Verfügt SNC über ein eigenes Flugkontrollzentrum? Wie ist die Zusammenarbeit mit dem Missionskontrollzentrum am Johnson Space Center?

Steven Lindsey: Nach der Abtrennung des Dream Chaser von der Atlas-5-Rakete wird der Dream Chaser über Orbitmanövertriebwerke (OMS – Orbiter Maneuver System) und Lageregelungstriebwerke (RCS / Reaction Control System) Bahnänderungen sowie seinen Anflug zur Raumstation absolvieren. An Bord des Fahrzeugs gibt es ein Flugregelungssystem und Navigationssysteme, welche autonom arbeiten. Im Endanflug kann die Raumstationsbesatzung ebenfalls auf die Flugkontrollsysteme des Orbiters zugreifen. Tatsächlich wird in Colorado gerade ein Flugkontrollzentrum für den Dream Chaser gebaut. Die Flugkontrolle erfolgt dann über das SNC-eigene Kontrollzentrum.

Bei der Annäherung an die Raumstation gibt es bestimmte Sicherheitsanforderungen, die zu beachten sind. Kommen wir mit dem Vehikel in einen definierten Bereich …

RN: … zum Beispiel in die KOS (Keep-Out Sphere).

RN / SNC
Dream Chaser am SSRMS der ISS – künstlerische Darstellung am SNC-Stand auf dem IAC 2018
(Bild: RN / SNC)

Steven Lindsey: Richtig, aber Sie kennen sich ja schon damit aus. Es gibt also die Keep-Out Sphere und sogenannte Approach Ellipsoide. Das was beim Anflug passiert ist folgendes: Unsere Daten aus unserem Flugkontrollzentrum werden zum Missionskontrollzentrum überspielt. Nun arbeiten beide Kontrollzentren zusammen. Die Flugkontrolle im Johnson Space Center gibt allerdings das „Go / No Go“ um mit dem Raumfahrzeug in den nächsten Sicherheitsbereich einzudringen.

Haben wir die Raumstation erreicht, gibt es zwei Möglichkeiten: Ausführen des Dockingmanöver mit den bordeigenen Lageregelungsdüsen oder aber das passive Andocken über den Manipulatorarm der Raumstation (SSRMS / Space Station Remote Manipulator System). Wenn wir allerdings über die unbemannten Flüge sprechen, so sieht es tatsächlich so aus, dass wir den Dream Chaser ferngesteuert in eine Box unterhalb der Raumstation manövrieren. Dann wird der Dream Chaser mit dem SSRMS gegriffen und von den Astronauten an Bord der ISS manuell angedockt. Natürlich können wir auch selber andocken, aber die NASA hat hier das Kommando. Auf jeden Fall wird bei der ersten Dream-Chaser-Mission das Andocken über den Roboterarm durchgeführt.

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Der Dream Chaser als Tischmodell
(Bild: RN)

RN: Wenn wir uns das Tischmodell des Dream Chasers anschauen, dann entdecken wir ein nicht wiederverwendbares Kopplungsmodul an der Rückseite und wir sehen Solarzellenausleger.

Steven Lindsey: Vollkommen korrekt.

RN: Wie lange hält die Energieversorgung der eingebauten Batterien, wenn sich die Solarzellenausleger nicht entfalten?

Steven Lindsey: Das ist eine gute Frage. Ich möchte ihre Frage folgendermaßen beantworten: Wir haben unser System mit genügend Fehlertoleranz entwickelt. Solch ein von Ihnen skizzierter Fehler würde vom Gesamtsystem toleriert werden, ohne das es zum Missionsabbruch führt. Natürlich haben wir nur eine beschränkte Lebensdauer, wenn beide Solarzellenausleger sich nicht entfalten. Trotzdem würden wir mit der Batteriekapazität einen kontrollierten Rückflug aus dem Erdorbit schaffen. Wir können einen gewissen Leistungsabfall der Stromversorgung tolerieren, aber das ist bei jedem anderen Raumfahrzeug auch der Fall. Letztendlich kann man sich immer ein Worst-Case Szenario überlegen und es überleben, wenn man es denn möchte.

Das Design wird schon in punkto Fehlertoleranz so ausgelegt, das das Gesamtsystem diesen Fehler toleriert und die Mission weiterverfolgt werden kann. Im Space Shuttle hatten wir das Fail Safe Prinzip verfolgt. Wenn in einem kritischen System ein Fehler auftrat, konnte ein weiteres System die Aufgabe übernehmen. Die Mission konnte fortgeführt werden. Selbst bei dem Ausfall des redundanten Systems konnte die Mission sicher nach Hause geflogen werden. Diese Designphilosophie haben wir für den Dream Chaser übernommen.

Erinnerung von der Kommunikationsdirektorin: Noch eine Frage. Wir haben noch eine Minute Zeit.

RN: Eine Frage bezüglich der bemannten Flüge mit dem Dream Chaser. Gibt es da schon ausreichende Systemstudien seitens SNC?

Steven Lindsey: Die ersten Konzeptstudien am Dream Chaser waren sowieso für eine bemannte Version. Nun arbeiten wir eben an der Cargoversion. Ungefähr 85% des Gesamtsystems zwischen der bemannten und der unbemannten Version des Dream Chaser sind gleich. Wir haben die gleiche Avionik, das System ist druckbeaufschlagt. In der Cargoversion fehlen die Displays, die Sitze und wir benötigen kein Umweltkontrollsystem, welches die Sauerstoffversorgung sicher stellt.

Also die Unterschiede zwischen beiden Versionen sind tatsächlich sehr gering. In der Zukunft wollen wir den Dream Chaser dann in die bemannte Version umbauen.

RN: Wir bedanken uns für das ausführliche Gespräch.

Raumfahrer.net hat das Gespräch mitgeschnitten. Die Aufzeichnungen enden tatsächlich bei 10:18 Minuten.

Fazit: Ein Gespräch für Medienvertreter bei einem Unternehmensmanager auf dem IAC Kongress zu erhalten, ist nicht wirklich einfach, aber wenn man dann am Ball bleibt und die richtigen Fragen stellt, wird man auch als Medienvertreter ernst genommen.

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