Auf die Frage, ob wir eine über 100 Milliarden Euro teure Raumstation brauchen und ob wir sie auch nach 2020 brauchen, bietet das ISS-Symposium viele Antworten. Eine davon ist zum Beispiel das Alpha-Magnet-Spektrometer (AMS) welches nach 17 Jahren Entwicklungszeit letztes Jahr an der ISS angebaut wurde.
Ein Beitrag von Ralf Mark Stockfisch. Quelle: ESA, NASA, Raumfahrer.net.
Der erste Tag der internationalen Veranstaltung, welche die vergangene und künftige Nutzung der Internationalen Raumstation ISS bewerten soll, brachte viele Rückblicke und Ausblicke von den höchsten Vertretern der fünf beteiligten Raumfahrtagenturen aus den USA, aus Russland, Europa (ESA), Japan und Kanada. ESA-Generaldirektor Jean-Jacques Dordain betonte die verschiedenen Nutzungen und deren Vorteile, welche sie der Menschheit bringt. Ein großer Vorteil sei insbesondere die internationale Zusammenarbeit zwischen den Raumfahrtagenturen und letztlich zwischen den Staaten. Die auf diese Weise geschmiedeten Partnerschaften würden selbst dann noch verbleiben, wenn es die ISS schon nicht mehr gäbe. Er betonte, dass Kooperation zwar langsamer ist als Konkurrenz, aber einen länger anhaltenden Nutzen für alle bedeute. Auf die Frage angesprochen, ob man die ISS 2020 im Meer versenken sollte, sagte er: „Wir wären dumm, dies zu tun. Es gibt keine Deadline, die einzige Frage ist, wie lange können wir die ISS im Orbit halten. Es gibt auch eine Zukunft in einem niedrigeren Erdorbit. Es fragt sich jedoch, wie lange die ISS die richtige Hardware hat, um sie entsprechend nutzen zu können. Dies wiederum ist eine Frage von Kosten und Nutzen.“
Prof. Johann-Dietrich Wörner, seines Zeichens Vorsitzender des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), untermauerte indirekt warum die Menschheit die ISS auch nach 2020 noch braucht. Man betreibe diese Raumstation und die Raumfahrt nicht als Selbstzweck. Raumfahrt bedeute mehr als „nur zum Mond fliegen“, sondern bedeutet neue Technologien, neue medizinische Verfahren, internationale Zusammenarbeit, Inspiration junger Menschen und mehr. Die Globalen Herausforderungen wie die schwindenden Ressourcen, die steigende Anzahl an Erdbewohnern, die Umweltverschmutzung und Klimaveränderung und damit einher gegende Folgeprobleme (Naturkatastrophen, Kriege etc.) machten die ISS erforderlich. Neben den durch die Schwerelosigkeit möglichen speziellen Experimenten erfüllt sie breit gefächerte Aufgaben. Eine wichtige Aufgabe, die Prof. Wörner zwar nicht direkt ansprach aber meinte, sind die Fernbeobachtung durch die Besatzung der ISS mithilfe spezieller Kameras und Sensoren.
Im Gegensatz zu zahlreichen herkömmlichen Erdbeobachtungsplattformen umkreist die ISS die Erde in einer geneigten, äquatorialen, nicht sonnensynchronen Umlaufbahn. Das heißt, die ISS passiert die Erde in einem Winkel zwischen 52 Grad nördlicher und 52 Grad südlicher Breite, und zwar zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten und bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen. Satelliten mit Fernerkundungssensoren zur Erdbeobachtung wie Landsat7 oder Terra dagegen befinden sich in der Regel auf einer polaren, sonnensynchronen Umlaufbahn. Sie passieren die gleiche Stelle auf der Erdoberfläche in Abständen von etwa zwei Wochen immer zu etwa der gleichen Tageszeit. Diese können im Gegensatz zur ISS keine Oberflächenprozesse untersuchen, die normalerweise früh am Morgen oder spät am Nachmittag auftreten, beispielsweise Gesetzmäßigkeiten in der Bildung küstennaher Nebelbänke. Ein weiterer besonderer Vorteil der ISS ist die Besatzung, denn diese kann unverzüglich auf neue Situationen reagieren und braucht kein neues Datenerfassungsprogramm, das erst noch von der Bodenstation hochgeladen werden muss. Das fällt insbesondere bei plötzlichen und unerwarteten Naturereignissen ins Gewicht, wie zum Beispiel Vulkanausbrüchen, Erdbeben und Tsunamis. Die Beobachtung erfolgt nicht nur mit Handkameras sondern auch mit mehreren externen Sensoren. Das HICO beispielsweise ist ein abbildendes Spektrometer, installiert an der Außenplattform des japanischen Labormoduls Kibo. Von seinen Bilddaten erhofft man sich ein besseres Verständnis von Küsten- und anderen Regionen unseres Planeten.
Schließlich ging Prof. Wörner noch auf die derzeit wichtigste Neuinbetriebnahme auf der ISS ein, das Alpha-Magnet-Spektrometer (AMS). Dazu hielt im Anschluss Prof. Schael von der RWTH Aachen einen Vortrag. Raumfahrer.net hatte zudem die Möglichkeit direkt mit ihm zu sprechen. Das AMS ist ein Teilchendetektor zur Untersuchung der kosmischen Höhenstrahlung. Mit ihm können Eigenschaften von Elementarteilchen nachgewiesen werden. Ein Magnetspektrometer soll demnach die jeweilige Energie geladener Teilchen durch Einsatz eines Magnetfeldes messen. So kann damit insbesondere Antimaterie aufgespürt werden. In der Astrophysik gilt nach heutigem Stand die Hypothese, dass nach dem Urknall ebensoviel Materie wie Antimaterie entstand. Bisher wurde jedoch im Weltall noch keine Antimaterie entdeckt. Würde das AMS zum Beispiel einen Anti-Kohlenstoff-Atomkern messen, wäre das ein Hinweis darauf, dass das Universum in der Tat symmetrisch ist und nach dem Urknall eine räumliche Trennung zwischen Materie und Antimaterie stattgefunden hat. Auf der Erde konnte man solche Antimateriekerne bisher nicht messen, da sie wohl vorher mit der Erdatmosphäre wechselwirken. Am CERN in Genf konnten zwar Anti-Wasserstoffkerne hergestellt werden, deren Lebenszeit war aber extrem kurz.
Außerdem könnte man mit dem AMS beweisen, dass es die von der Wissenschaft seit langem vermutete, dunkle Materie gibt. Darunter versteht man eine Materieform, die zu wenig sichtbares Licht oder andere elektromagnetische Strahlung aussendet, reflektiert oder absorbiert, um direkt beobachtbar zu sein. Dabei handelt es sich bisher nur um eine Theorie. Grund dafür ist Folgender: Nach dem Dritten Keplerschen Gesetz und dem Newtonschen Gravitationsgesetz müsste die Rotationsgeschwindigkeit in den äußeren Bereichen von Galaxien abnehmen. Entgegen dieser Annahme verlaufen die beobachteten Rotationskurven jedoch konstant oder steigen sogar leicht an. Diese Diskrepanz legt die Vermutung nahe, dass im Universum eine Materieform existiert, welche nicht in Form von Sternen, Staub oder Gas sichtbar ist. Nur so lässt sich der Effekt mit unser bisherigen physikalischen Vorstellung erklären. Die Hoffnung liegen nun darauf, mit Hilfe des AMS eben jene dunkle Materie nachweisen zu können. Die Realisierung des multinationalen Projekts hat mehr als 16 Jahre gedauert und umfasste einen Vorgänger (das AMS-01), unzählige Testläufe und einen unerwarteten Umbau. Dabei wurde der mit flüssigem Helium gekühlte supraleitende Magnet des Spektrometers gegen einen normalen Neodym-Permanentmagneten ausgetauscht, um einen Betrieb des AMS-2 für bis zu 18 Jahre zu ermöglichen. Der supraleitende Magnet hätte nur etwa drei Jahre überstanden und hätte dann instandgesetzt werden müssen. Zwar bedeutet der Verzicht auf den gekühlten Magneten auch eine Einbuße an Messpräzision (Prof. Schael nannte es „energy resolution“), da der Magnet die geladenen kosmischen Partikel durch fünf verschiedene Detektoren leiten muss. Dafür wurde jedoch mehrere Magnetringe übereinander gestapelt, so dass das AMS-02 wesentlich schwerer und länger wurde. Zudem wurden empfindlichere Detektoren verwendet. Somit konnten die Einbußen kompensiert werden, sagt Prof. Schael.
Prof. Schael als Projektleiter für die Deutschen Beiträge zum AMS betonte, wie froh er ist, dass dieses Präzisions-Messinstrument überhaupt den Flug mit dem Space Shuttle und die anschließende Montage an die ISS überstanden hat. Immerhin fallen bei so einem Flug Kräfte über der 6-fachen Erdbeschleunigung an. Prof. Schael fuhr selbst zur Installation des AMS in das Kontrollzentrum nach Houston, um die notwendigen Arbeiten zu koordinieren. Mittlerweile nimmt das AMS-02 über 16 Milliarden Ereignisse („Events“) pro Jahr auf, welche in einem eigens dafür eingerichteten Kontrollzentrum verarbeitet werden, um sodann ausgewertet werden können. Schon jetzt hatte man einige interessante Ereignisse, wie z.B. ein Elektron mit einer Energie von über einem Terra-Elektronenvolt (1 TeV). Auf die Frage, ob er für den Fall, dass sich die Theorie der schwarzen Materie nicht verifizieren lässt, schon eine andere Theorie in petto habe, antworte Prof. Schael, dass es Aufgabe künftiger Generationen sei, mit den nun gesammelten und noch zu sammelnden Daten Theorien über unser Universum zu bilden. In jedem Fall sei das AMS-02 ein historisches Wissenschaftsprojekt das die Physik verändern könnte.
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